Malcolm

Als Kind wusste ich glücklicherweise nicht, was Synästhesie ist. Meine Welt bestand aus Büchern/Literatur, Sprache. Schreiben, klassische Musik, Bilder, Menschen ... eine recht vielfältige Kindheit, was Erfahrungen und die Sinne betrifft. Aber es war trotzdem da, es gehörte zu meinem Heranwachsen und zu der Art, wie ich die Welt um mich herum betrachtete, hörte, spürte und wahrnahm.
Ich habe nie bewusst darüber nachgedacht, aber ich wusste, dass ich anders war. Es war mir klar, dass andere Menschen Farben unvollkommen beschrieben: Sie erwähnten nie die Form, das Gefühl und die Temperatur einer Farbe. Ich wusste als Kind, dass Musik eine absolute Macht hatte. Schon im Alter von 8 oder 9 Jahren konnte mich Musik zu Tränen rühren, weil die Erfahrung vollkommen war - und manchmal völlig verheerend durch ihre unglaubliche Größe, die reine Freude und den Schmerz, den sie hervorrief.
Ich lernte Klavier- und Geigespielen, aber weil ich nicht sofort gut spielen konnte, war das für mich eine schlechte Erfahrung. Die Geräusche, die ich hervorbrachte, waren unangenehm bis schmerzhaft. Bei der Geige hatte ich Schwierigkeiten, das Instrument zu halten, und die Erfahrung war insgesamt schlecht.
Als ich ein Teenager war, hatte ich genug gelesen: Ich war mir der Sprache, Farbe und Symmetrie - sehr wichtig - in allen Sinnen bewusst. Dichtung, Bilder und Musik bildeten eine "Mélange" für mich. Diese Mischung verstand ich erst, als ich mit 17 Baudelaires wunderbares Gedicht "Correspondances" las.
Damals war das Leben interessanter, die Hormone spielten verrückt, die Horizonte öffneten sich und ich wurde mir meiner "Kräfte" ständig bewusster. Ich wusste, dass es ungewöhnlich war, wenn man es vorsichtig ausdrücken will. Viele Jahre lang ignorierte ich die Synästhesie. Ich liebte sie, ich nutzte sie, aber ich ignorierte sie insofern, dass ich niemandem davon erzählte.
Bei Gelegenheit entdeckte ich, dass meine Frau die "seltsamen" Kommentare manchmal registriert hatte. Wenn ich ein Glas sehr guten Burgunders mit den Worten beschrieb "als ob man rote Samtvorhänge trinkt", interpretierte sie das als Phantasie und eine gewisse Alkohol-Seligkeit! Aber auch wenn man völlig nüchtern ist, kann ein Glas Volnay sogar wie rote Samtvorhänge riechen! So geht es jedenfalls mir.
So setzte es sich jahrelang fort: ein Bild da, ein Teppich dort, mein Hund - alle hatten einen eigenen, viel-sinnigen Charakter. Ich habe keinen "schwarzen Labrador"; außer all den anderen Eigenschaften, die ein Hund für seinen Herrn hat, ist er eine Kombination von Farbe, Form und Geruch, die keinen Regeln folgt. Das "Schwarz" tut meinen Augen gut - und nur ein anderer Synästhetiker kann nachvollziehen, was ich meine - und der Geruch eines nassen Labradors ist mit einem einzigartigen Gefühl verbunden, ohne dass man das nasse Fell berührt. Das ist kein erlerntes und eingeprägtes Gefühl. Es verändert sich von Tag zu Tag und von Mal zu Mal.
Musik ist aber das GRÖSSTE: der große Prunk des Barock ist ein farbenfrohes, sinnliches ICH-WEISS-NICHT-WAS! Wenn ich eine Bach-Toccata höre, erscheint ein Kaleidoskop von Farbe, ich spüre eine vieldimensionale Form mit einer Textur, die von glatter Seide bis zur groben Oberfläche einer Eierschachtel reicht. Das kann anstrengend sein, aber auch süchtig machen. Unglaublich bei de Synästhesie ist auch, dass man den Ton unmöglich von der Farbe vom Gefühl von der Temperatur von Körperempfindungen trennen kann.
Das Ausmaß dieser Ganzheit ist gelegentlich so ungeheuer, dass ich meine Tätigkeit einstellen und mich einfach hinsetzen muss. Einmal fuhren wir durch Westfrankreich, an einem wunderschönen warmen Junimorgen mit blauem Himmel, auf geraden, leeren Straßen südlich der Loire, währen wir etwas von Händel spielten. Ich war völlig überwältigt von der großen Freude über die Pracht um mich herum. Ich musste die CD zu Ende hören und konnte mich wegen der umfassenden Empfindung kaum bewegen. Es war eine richtige Verkettung der Sinne.
Essen und Trinken gehören auch zu diesem Kaleidoskop: Der Geschmach des Essens beruht oft auf Farbe und umgekehrt, und der Geschmack nimmt in meinem Mund/Gehirn eine dreidimensionale Gestalt an. Eine Tasse guten Kaffees ruft eine große Bandbreite von Empfindungen hervor: Der einfache Geschmack und die Temperatur prallen auf Farbe und Gefühl und werden in eine "Mischung" umgewandelt - das ist eines der wenigen Dinge, die ich überhaupt nicht beschreiben kann. Ich liebe guten Kaffee!!
Heute ist ein guter Tag zum Beschreiben der Erfahrungen! Vielleicht die einfachste Beschreibungvon meinem Leben als Synästhetiker - auf jeden Fall nach meinen Begriffen - ist, dass ich das Leben durch, in und jenseits eines wunderschönen farbigen Glases erlebe, das selbst Farbe, Form, Tiefe, Oberflächenstruktur besitzt, außerdem Sonnenlicht, Schatten und noch mehr. Ebenso wie ein Fenster auch an trüben Tagen die gleichen schönen Eigenschaften hat, habe ich gewisse "Eigenschaften", aber selten tritt eine Eigenschaft besonders hervor oder fehlt eine. An einem "guten Tag" gibt es alles in seiner ganzen Fülle - Farbe, Form, Geschmack, Oberfläche - und an einem "schwachen Tag" ist es weniger.
Es gibt Tage, an denen alles abstürzt - wie bei einem Computer. Diese Phasen sind sehr enttäuschend im Vergleich zur Pracht der normalen Erfahrung und traurig um Vergleich zur Größe eines guten Tags! Es sind ziemlich schwarzweiße Tage oder Tageszeiten.
Seltsamerweise erinnere ich mich selten an farbige Träume, obwohl ich darin oft Töne und Oberflächen wahrnehme. Soweit ich mich erinnere, sind meine Träume so synästhetisch wie mein wirkliches Leben, aber stumm. Es ist wohl zu anstrengend, "ganzheitlich" zu träumen!
Alkohol hat gewähnlich eine angenehme Wirkung, aber da ich nur wenig trinke, nehme ich kaum Unterschiede wahr, nur Übertreibung und dann Verstummen. Ich habe noch nie psychedelische Drogen genommen, aus dem verständlichen Grund, weil ich nichts nehmen muss, um "high" zu werden!!
An dieser Stelle habe ich beim Schreiben die Textfarbe geändert. Das Standard-Schwarz wurde mir unangenehm - nicht für meine Augen, sondern völlig unangenehm für mich als Person. Dunkelblau ist "runder". Ich verändere oft die Schriftart, mit der ich arbeite: Manche können "schmerzen".
Musikinstrumente haben für mich normalerweise - aber nicht grundsätzlich - ihre eigenen Farben und Oberflächen und verbinden sich zu neuen Farben und Oberflächen. Die "vollkommenste" Musikerfahrung bietet die Orgel - aus verständlichen Gründen. Von der frühen Orgelmusik bis hin zur Größe von Messiaen stellt eine Fülle von Gefühlen, Tönen, Formen, Oberflächen wie bei einem Kaleidoskop dar, die von ruhig bis orgasmisch reicht. Die Symmetrie und Asymmetrie von Johann Sebastian Bach ist für mich das Absolute einer synästhetischen Erfahrung, zusammen mit Stücken aus der Literatur, die eine verheerende Wirkung haben.
Die menschliche Stimme ruft die gleiche Bandbreite von Eigenschaften und Empfindungen hervor. Kennen Sie die bemerkenswerte Stimme von Andreas Scholl, einem deutschen Kontra-Tenor? Andreas Scholl hat eine Stimme, die ich nur als "pro-synästhetisch" beschreiben kann, denn sie bewegt sich in einem Augenblick über die ganze Bandbreite der vermischten Sinne! Es gibt eine Parallele zu einem amerikanischen Kontra-Tenor, David Daniels, dessen Können und Stimme denen von Scholl ähneln, aber der Stimme fehlt der Silber-Überzug, den die Stimme von Andreas hat, und ihr Schalter für die ganze Erfahrung ist nicht "eingeschaltet".

Vor einigen Jahren hat eine Radiosendung mein bewusstes Interesse an dem Thema wieder erweckt und meine Frau bemerkte, welche Wirkung die Sendung auf mich hatte, als wir gemeinsam zuhörten. Ich "gestand" ihr alles. Sie holte nicht den Arzt, sondern hörte zu und stellte intelligente Fragen, die sich für mich natürlich "dumm" anhörten, aber sie hört Dinge, sieht Dinge und berührt Dinge unabhängig voneinander - ganz anders als ich! Seit diesem Tag versteht sie besser, was in mir vorgeht, und manchmal fragt sie, welche Farbe die Musik hat - obwohl sie die Eigenheit des "roten Samtvorhangs" eines Glases guten Burgunders noch nicht schätzen kann!!
Ich gebe es zu: Nur wenigen habe ich das bisher erzählt, und die, denen ich es erzählt habe, haben wenig Interesse oder ein vorübergehendes Interesse an der Sache geäußert. Ich habe rote Haare ...! Empfindlich! Wenn sie nur wüssten, wie widerstandsfähig ein Synästhetiker sein muss, um den Ansturm zu überleben! Es wäre zu ermüdend, das zu erklären!

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