Gunthild

Schon als Kind stritt ich mit meiner Schwester, weil sie offensichtlich falsche Farben bei ihren Zahlen und Buchstaben hatte. Schließlich war mein A blau und ihr A rot. Uns wäre nicht in den Sinn gekommen, dass andere nicht alles mit Farben sehen. Irgendwann wurden wir schon stutzig - unsere Brüder hatten keine Farben - typisch Jungs. Damit war es für uns erledigt.

In der Schule wurde ich manchmal verlacht, weil es immer wieder vorkam, dass ich Zahlen und Buchstaben verwechselte, wenn sie die gleichen Farben hatten (z. B.: F und 7 = dunkelgrün; A und 4 = dunkelblau; B und 3 = rot usw.)

Mein Mann freute sich über meine Phantasie, hatte aber auch oft Schwierigkeiten mit anderen Dingen, die meiner Meinung dazu gehören. Z. B.: meine permanente Unruhe, meine reizüberfluteten Nerven - ich habe das Gefühl, alles gleichzeitig wahrzunehmen - und nerve dann mit meinen Beobachtungen. Obendrein spreche ich schneller als ich denke und richte dann schnell Schaden an. Meiner Schwester geht es ähnlich. Und weil unser zweiter Sohn von den Lehrern in die ADS-Sprechstunde geschickt wurde, habe ich den Test auch gleich bei mir gemacht. Eindeutig!!! Und dabei haben wir es belassen. Ich verstehe jetzt meinen Sohn umso besser, weil ich mich besser kennengelernt habe. Ich glaube, dass zwischen dem Farbensehen und ADS eine Verbindung besteht. Schon oft hatte ich meinen Sohn gefragt, ob er auch Farben bei den Zahlen und Buchstaben sieht. Er hat sich schlapp gelacht und gesagt: So was gibt es doch gar nicht. Kürzlich (!!!) habe ich ihn auf den Kopf zu gefragt: Welche Farbe hat das A? Da hat er wie aus der Pistole geschossen geantwortet: na rot! Daraufhin konnte er alle Zahlen und Buchstaben mit Farben erklären, auch Wochentage und Monate. Er war selbst total erschüttert (im positiven Sinn) und konnte es nicht fassen. Hatte ich es nicht schon immer geahnt?

Meine Tage, Wochen, Monate, Jahre und Jahrzehnte sehe ich in großen Bögen. Wobei immer der Anfang ganz oben und hellblau ist, dann geht es ins Tal (eher gelb-orange) und endet wieder nach oben gehend und immer dunkler werdend. Am stärksten empfinde ich es Silvester, wenn der dunkle 31. Dezember tiefschwarz endet und der 1. Januar strahlend hellblau beginnt - auch wenn der Himmel dunkel ist. Die Jahrzehnte entsprechen dabei meinen "normalen" Farben der Zahlen.

Wenn ich im Gottesdienst auf dem Klavier die Lieder begleite, schreibe ich mir die Gitarrenakkorde über die Noten (die ich leider nie richtig gelernt habe). Nun brauche ich mich nur im Farbbereich der Akkorde auf dem Klavier aufhalten, dann kann nicht mehr allzuviel schiefgehen. Begleite ich ein Lied also in E, A und H dann spiele ich die Akkorde nach meinen Buchstabenfarben gelb, dunkelblau und graubraun. Das ist sehr hilfreich - aber üben muss ich trotzdem :-)

Ich höre nicht Klänge wie andere Synästhetiker. Obwohl es in meinem Kopf ständig rauscht, blitzt und kracht. Mitunter empfinde ich meinen Schädel wie einen Bahnhof, auf dem die D-Züge in allen Richtungen und Etagen durchdonnern. Ich muss mich dann zwingen, einen Zug anzuhalten und nur mit diesem "mitzufahren". Diese Empfindungen sind unterschiedlich stark - manchmal geht es mir wochenlang "gut" - aber ich weiß nicht, welche Kriterien diese Dinge beeinflussen.

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